Normannische Theorie
Die Normannische Theorie (auch Skandinavische Theorie oder Normannismus) ist eine der führenden Theorien in der Historiographie, die den Ursprung der Rus in den skandinavischen Ländern zur Zeit der Expansion der Wikinger (genauer der Waräger) vermutet. Die Theorie stützt sich hauptsächlich auf die Nestorchronik (alternative Bezeichnung: Geschichte der vergangenen Jahre, russ. Повесть временных лет). Zum ersten Mal wurde die normannische Theorie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vom deutschen Historiker Gottlieb Siegfried Bayer formuliert, der an der Petersburger Akdamie der Wissenschaften sich mit der russischen Geschichte befasste, und später vom deutschen Universalgelehrten August Ludwig von Schlözer aufgegriffen. Etymologisch geht das Wort Rus wahrscheinlich auf das altnordische Wort roðr für "Rudern" bzw. auf das finnische Ruotsi, die Bezeichnung für Schweden oder Nordgermanen. In der Nestorchronik spielen die Rus und die Waräger eine wichtige Rolle. Rus ist dort die Bezeichnung für ein Volk oder die Gesellschaftsschicht, die die Macht ausübte, und Rus wurde auch zum Namen ihres Gebietes. In Skandinavien und Island nannte man die russischen Länder noch bis ins 13. Jahrhundert Gardariki oder auch Großschweden. In der Nestorchronik steht:
- "Und sagten die [Slawen] zu sich: Suchen wir uns einen Knjaz, der über uns herrschen und über uns gerecht richten soll. Und sie gingen nach Übersee zu den Warägern, zu den Rus. Jene Waräger nannten sich Rus wie andere sich Schweden nennen und wieder andere Normannen oder Angeln und noch welche Gotländer. So auch diese."
Die Nestorchronik enthält außerdem eine Liste mit Namen der Waräger-Fürsten und den Gesandten nach Byzanz, die allesamt skandinavische Wurzeln haben wie Rorik, Haskuldr, Dyri, Helgi, Ingwar. Slawische Namen tauchen in der Liste erst ab 944 auf. Auch archäologische Funde untermauern die normannische Theorie.
Eines der Hauptargumete der Gegner der normannischen Theorie (Antinormannisten) ist die Tatsache, dass die russische Sprache keine Elemente der skandinavischen Sprachen enthält. Die Geschichtslehre der Sowjetunion widerlegte mit teilweise pseudowissenschftlichen Argumenten den normannischen Ursprung der Rus und bezeichnete die Theorie als ideologische Waffe zur Untergrabung des russischen Volkes. Als verbindlich galt unter dem kommunistischen Regime die Ostslawische Theorie, die den Ursprung des Stammes Rus südlich vom heutigen Kiew entlang des Flusses Ros annahm. Linguistische Indizien in Wörtern wie Ruslo (kyr. Русло) "Flussbett", Rusalka (kyr. Русалка) "Wassernymphe", Rosa (kyr. Роса) "Morgentau" oder oroschat (kyr. орошать) "bewässern" bringen eine Verbindung mit Wasser bzw. Flüssen einher und würden somit für die Gegend um den Fluss Ros sprechen. Außerhalb Russlands fand diese Theorie kaum Beachtung.
Weitere Theorien
- Ostslawische Theorie
- Iranische Theorie
- Westslawische Theorie